Erkenntnisse aus dem Vortrag von Sheikh Hamza Sodagar über Spiritualität in Glasgow, 23.02.2013: Reviving Spirituality

Früher oder später suchen wir alle danach. Die Reichen, die Armen, die Gesunden, die Kranken, jeder sucht es. Billionäre haben all ihre Träume verwirklicht und dennoch sagen sie „Ich fühle eine innere Leere“. Sie suchen im Buddhismus, im Hinduismus, im Sufismus, und doch kann niemand beschreiben wonach sie suchen. Wonach suchen wir? Was ist Spiritualität?

Ayatollah Bahdschad konnte in dich schauen, deine Fehler sehen, sagt man. Das muss ein spiritueller Mensch gewesen sein! Dieser kann dir deine Zukunft vorhersagen, Jener deine Träume deuten – das müssen sehr spirituelle Persönlichkeiten sein. Wenn ich beim Mausoleum von Imam Reza bin, oder in Karbala, dann fühle ich Spiritualität. Beim Klang der schönen Qur’an-Stimme empfinde ich Spiritualität. Wenn jemand an zwei Orten gleichzeitig sein kann, dann muss diese Person aber sehr spirituell sein!

NEIN! Das sagt Hojatul Islam Hamza Sodagar, der von Ayatollah Misbah Yazdi unterrichtet wurde. Das sei nicht DIE Spiritualität. Es ist nicht das, was wir anstreben sollen. Nicht das Deuten von Träumen, Hineinsehen in andere Seelen, oder Vorhersagen der Zukunft ist Spiritualität. Diese Dinge seien nur vielmehr ein Spiel, welches man auch ohne Spiritualität erreichen kann. Wenn wir diese Dinge anstreben, so sind wir verloren. Was also sollen wir anstreben, um ewige Zufriedenheit zu erlangen?

Die Bedeutungslosigkeit des Diesseits

Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir die Bedeutungslosigkeit des Diesseits verstehen.

Einem Baby wird für gewöhnlich ein Spielzeug gegeben, womit es so lange spielt, bis es daran kein Interesse mehr empfindet. Es bekommt ein komplexeres Spielzeug, bis auch dieses keine Freude mehr bringt. Jugendliche spielen mit Videospielen und messen einander in „Levels“; Studenten, Auszubildende und Arbeiter sind entweder immer noch mit Videospielen beschäftigt, oder arbeiten an einem neuen Heim. Kinder kündigen sich an, das Familienleben beginnt. Ein Hauskauf wird wichtig, ein neues Auto wird wichtig. Man arbeitet, um sich eine A-Klasse, oder ein großes Anwesen leisten zu können. Das Spiel geht so lange weiter, bis uns das einholt, was einem jeden hinterherrennt: Der Tod.

Die Realität des materiellen Lebens wurde von Allah (swt) im Heiligen Qur’an beschrieben. In Sure Muhammad (47), Vers 36 steht:

إِنَّمَا الحَيَاةُ الدُّنْيَا لَعِبٌ وَلَهْوٌ وَإِن تُؤْمِنُوا وَتَتَّقُوا يُؤْتِكُمْ أُجُورَكُمْ وَلَا يَسْأَلْكُمْ أَمْوَالَكُمْ

Wahrlich, das Leben des Diesseits ist nur ein Spiel und Zeitvertreib, und wenn ihr überzeugt seid und gottesfürchtig seid, er wird euch eure Löhne zukommen lassen und er wird von euch nicht euer Gut erfragen. (47:36)

Plötzlich wird uns klar: All das, worauf ich bisher fokussiert war, wonach ich gestrebt habe, war nichts weiter als ein Spiel. Wenn wir ein Baby beim Spielen mit einer Rassel beobachten, denken wir aus unserer Erwachsenenposition heraus: „Mit welch sinnlosem Zeitvertreib sich ein Baby beschäftigen kann.“ Doch genauso „denken“ diejenigen, die Spiritualität erreicht haben, über uns – mit welch sinnlosem Spiel wir doch unsere Zeit vertreiben.

Diese Menschen haben erkannt, worauf es im Leben ankommt. Diese Menschen wissen, wer Allah (swt) ist oder wollen es zumindest wissen. Sie interessieren sich überhaupt nicht an der Größe eines Hauses oder der Neuheit eines Autos, sie müssen nur Mittel sein, um das Ziel (Allah) zu erreichen.

Der Führer der Gläubigen, Imam Ali (s.) wurde einmal zu Zeiten großer Schwierigkeiten für die Ahlulbait gefragt: „Warum muss ein Imam durch solche Schwierigkeiten gehen?“ Imam Ali (s.) hob ein paar Steine auf, verwandelte sie in Goldstücke und sagte: „Wenn wir wollten, könnten wir all das haben. Aber es ist absolut unwichtig.“

In einer weiteren Überlieferung der Ahlulbait (s.) heißt es: „Wenn jemand auch nur einen Senfkorn groß Liebe zum Diesseits empfindet, dann wird er niemals die Blume der Spiritualität schmecken können.“

Was ist Spiritualität?

Und was wollen wir tatsächlich erreichen, wenn wir „Spiritualität“ erlangen wollen? Was ist die wahre Spiritualität? Dazu hat Ayatollah Misbah Yazdi ein paar Gedankengänge mit Qur’an-Versen belegt, die im Folgenden wiedergegeben werden sollen:

Allah sagt im Heiligen Qur’an in der Sure Hud:

إِلاَّ مَن رَّحِمَ رَبُّكَ وَلِذَلِكَ خَلَقَهُمْ وَتَمَّتْ كَلِمَةُ رَبِّكَ لأَمْلأنَّ جَهَنَّمَ مِنَ الْجِنَّةِ وَالنَّاسِ أَجْمَعِينَ

Außer jenen, die dein Herr begnadet hat, und dazu hat er sie erschaffen. Und vollendet ist das Wort deines Herrn. Wahrlich, ich werde Dschahannam mit der Dschinnheit und der Menschheit füllen allesamt. (11:119)

Nur zum Verständnis: der Vers bezieht sich auf den vorangehenden Vers, in welchem die Menschen als Gegensätzliche bezeichnet werden, da sie sich nie einig werden. Sie trennen sich selbst voneinander und Allah straft sie, Außer jenen, denen von Allah etwas ganz besonderes zuteil wird: Gnade. Und genau dafür hat er den Menschen erschaffen, um diesen Segen, diese Gnade zu schenken. Alles, was Allah erschaffen hat, dient dazu, den Menschen zu segnen.

Aber was ist dieser ganz besondere Segen? Im Heiligen Qur’an steht im letzten Vers der Sure al-Kahf:

قُلْ إِنَّمَا أَنَا بَشَرٌ مِّثْلُكُمْ يُوحَى إِلَيَّ أَنَّمَا إِلَهُكُمْ إِلَهٌ وَاحِدٌ فَمَن كَانَ يَرْجُو لِقَاء رَبِّهِ فَلْيَعْمَلْ عَمَلاً صَالِحاً وَلَا يُشْرِكْ بِعِبَادَةِ رَبِّهِ أَحَداً

Sprich: Ich bin nur ein Menschenwesen wie ihr, doch mir ist offenbart worden, dass euer Gott ein einziger Gott ist. Möge denn derjenige, der die Begegnung mit seinem Herrn erhofft, rechtschaffenes Handeln handeln und nicht einen beigesellen im Dienst an seinen Herrn. (18:110)

Was ist der Segen? Begegnung bzw. Zusammentreffen mit seinem Herrn. Das ist der ganze Segen. Nun fragt man sich vielleicht: Das ist ALLES?! Nur in seiner Nähe sein? Dazu gleich ein paar Beispiele.

Allah sagt im Heiligen Qur’an in Sure al-Qamar:

إِنَّ الْمُتَّقِينَ فِي جَنَّاتٍ وَنَهَرٍ

Wahrlich, die Gottesfürchtigen sind in Gärten und Bächen

فِي مَقْعَدِ صِدْقٍ عِندَ مَلِيكٍ مُّقْتَدِرٍ

im Wohnsitz von Wahrhaftigkeit bei einem bemächtigten Königs. (54:54-55)

An vielen Stellen im Heiligen Qur’an wird das Jenseits beschrieben, wie wir es lieben, mit Bächen, Flüssen, Honig, Milch usw. Und auch hier werden Gärten und Bäche genannt, der darauf folgende Satz wird jedoch in diesem Zusammenhang häufig unbeachtend dazu gelesen. Dabei wird der wahrhaftige Segen erst im letzten Satz deutlich. Ein wahrer Gläubiger erstrebt nicht die Gärten und Bäche, sondern die Nähe zum größten und mächtigsten aller Könige, Allah (swt). Daher ist die Absicht eines jeden Ritualgebets auch „um die Nähe Allahs“ [qurbatan ilallahi ta’ala] zu erlangen.

Der Zweck all unserer Handlungen, all der erlaubten, empfohlenen und verbotenen Dinge ist genau dies: Dass wir in der Lage sind, diesen Segen zu erhalten, nämlich die Nähe zu Allah zu spüren, ihn zu treffen.

Auf den ersten Blick ist dies schwierig zu verstehen. Ich soll alles beiseite lassen, nicht einmal auf Gärten und Bäche darf ich mich freuen? All die Schönheit, die mir im Paradies angekündigt wird, wenn ich gottesehrfürchtig bin, ist nichts? Alles soll nur die Nähe zu Allah sein?

Freuen kann man sich schon, doch jeder Bach wird unsere Freude irgendwann nicht mehr auslösen, es muss etwas im Paradies (und auch schon auf Erden) geben, dass ewige Freude verspricht.

Allah zu begegnen ist mit unglaublich viel Freude verbunden, so dass alles andere nicht mehr von Bedeutung ist, sondern nur Verzierung.

Um das besser verstehen zu können, einige Beispiele:

Den Gelehrten sehen

Wenn man über einen Gelehrten wie Ayatollah Bahdschad viel liest, beginnt man ihn zu mögen. Man wünscht sich, ihn doch nur einmal treffen zu dürfen. Genau so erging es einer Gruppe von Jugendlichen, die in den Iran gereist sind. Sie erfuhren, dass Ayatollah Bahdschad in den frühen Morgenstunden zum Haram (Maosoleum von Imam Reza) kommt und baten ihren Gruppenleiter, dass auch sie früh morgens zum Haram gingen, damit sie Ayatollah Bahdschad sehen könnten.

→ Diese Jugendlichen erfreuten sich allein daran, ihn sehen zu können, in seiner Nähe zu sein. Gleichzeitig hatten sie kribbelnd im Hinterkopf „er kann unsere Gedanken lesen“. Aber dennoch, sie wollten ihn sehen. Und dazu standen sie früh morgens auf, nahmen wenig Schlaf in Kauf.

In diesem Zusammenhang passt auch folgende Überlieferung gut:

Amir al Mu’minin (Imam Ali (s.)) wurde einmal gefragt: „Hast du Gott gesehen?“ Er antwortete: „Ich habe noch nie einem Gott gedient, den ich nicht sehen kann. Er ist real. Diese Augen sind nicht in der Lage, Gott zu sehen, nur das Herz eines Gläubigen ist in der Lage dazu.“
Imam Chamene’i sehen

Ein anderes Beispiel ist das Zusammentreffen von Jugendlichen mit Imam Chamene’i. Die jugendlichen Männer (Frauen weinen sowieso schnell, daher hier unerwähnt) beginnen zu tränen vor Freude, Imam Chamene’i zu sehen!

Einladung eines Geliebten

Man stelle sich vor: Imam Chamene’i lädt zum Abendessen ein  mit dem allerbesten Essen aus aller Welt! Einige der Gäste kommen wirklich wegen dem Essen. Aber die Person, die Imam Chamene’i liebt, interessiert sich überhaupt nicht für das essen. Diese Person würde nur versuchen so nah wie möglich an Imam Chamene’i zu gelangen, auch wenn sie dafür überhaupt kein Essen bekäme.

So ist es mit Gott

Menschen, die wissen, wer Allah (swt) ist, sind genau wie oben beschrieben. All die Segnungen im Jenseits sind für sie nicht interessant. Sie sind nicht im Paradies für all die Gärten, Bäche, Flüsse und Früchte usw. Sondern um عِندَ مَلِيكٍ مُّقْتَدِرٍ bei einem bemächtigten König zu sein.

Und wer auch immer nach etwas anderem sucht, der verliert sich im Leben.

Wie erlangt man Spiritualität?

Aber wie kommen wir dahin? Wie können wir die immer währende Präsenz Gottes (swt) wahrnehmen?

اللَّهُ نُورُ السَّمَاوَاتِ وَالْأَرْضِ

Allah ist das Licht der Himmel und der Erde. […] (An-Nur, 24:35)

ER ist das Licht. Wir sehen Dinge nur aufgrund des Lichtes – ein diesseitiges Gleichnis.

Allah sagt im Heiligen Qur’an in Sure Yunus:

أَلا إِنَّ أَوْلِيَاء اللّهِ لاَ خَوْفٌ عَلَيْهِمْ وَلاَ هُمْ يَحْزَنُونَ

Wisset, dass über Allahs Schützlinge keine Furcht kommen wird, und nicht sie werden trauern.(10:62)

„Auliyaa“ (Schützlinge) sind diejenigen, die Allah nahe gekommen sind. Solche Menschen werden keine Angst haben, noch Trauer. Wer sind diese?

الَّذِينَ آمَنُواْ وَكَانُواْ يَتَّقُونَ

Diejenigen, die überzeugt sind und gottesehrfürchtig sind

„Kaanuu“ hat etwas kontinuierliches im Arabischen. Es bedeutet, dass diese Menschen kontinuierlich Taqwa in ihr Leben einbauen.

Hamza Sodagar erzählt von einem Gelehrten – Allah möge seiner Seele gnädig sein – der in seinen Vorträgen darauf beharrte, dass „Taqwa“, Gottesehrfurcht, die Lösung aller Probleme erbringt. Jede Frage beantwortete er mit „Taqwa“.

Um Spiritualität zu erlangen, müssen wir Gottesehrfurcht zu unserem Leben machen. Es gibt weder einen Zauberspruch, noch eine Abkürzung zur Spiritualität, à la „wenn du 40 Tage dies und jenes tust, kommst du ins Paradies“. Dies sind Hilfen, um unsere Gottesehrfurcht zu stärken, um zu erkennen, dass nur Gott wichtig ist. Dazu müssen wir durch Prüfungen gehen, die richtigen Entscheidungen treffen, die Pflichten tun und das Verbotene unterlassen. Sünden töten das Herz. Und dies ist wirklich, worin wir geprüft werden. Denn uns muss die Wahl gelassen werden, ob wir dieses Licht sehen wollen oder nicht.

Es heißt im Heiligen Qur’an:

وَمَا خَلَقْتُ الْجِنَّ وَالْإِنسَ إِلَّا لِيَعْبُدُونِ

Und nicht habe ich die Dschinn und die Menschen erschaffen, außer dass sie mir dienen (51:56)

Was auch immer Allah von mir verlangt, danach richte ich mich. Womit ich der Menschheit am nützlichsten sein kann, tue ich.  Das ist kein einfacher Weg und daher heißt es auch „kaanuu yattaqun“. Wir werden nicht über Nacht die Engel sehen und viele geben im langwierigen Kampf gegen das eigene Ich auf. Aber wenn du etwas sehr wertvolles haben möchtest, dann arbeitest du schwer dafür und je wertvoller es ist, umso schwieriger ist es zu erreichen. Und Allah (swt) kann man mit nichts vergleichen.

Um der hindernden Einflüsterung stand zu halten, benötigen wir Hilfe auf diesem Weg. Und die beste Hilfe auf diesem Weg ist „Tawassul“, die Bitte um Fürsprache. Der Weg zur Einheit, zur Tauhid, ist der Weg mit den Ahlulbait, der Weg zur Tauhid ist der Weg zum Propheten (s.), zu Fatima (s.).

Der erste Schritt

Wenn wir danach streben Allah (swt) näher zu kommen, dann müssen wir aufrichtige Reue empfinden, für alle üblen Fehler und schlechten Handlungen aus der Vergangenheit.

Einige Schüler fragten einmal Alama Tabatabai – Allah möge seiner Seele gnädig sein – nach Ratschlägen zur Erlangung wahrer Spiritualität. Er überreichte ihnen ein Stück Papier und sagte: Schreibt all eure Sündenauf, nicht, um sie mir zu zeigen, sondern um Reue zu begehen und das Leben neu zu beginnen.

Möge Allah alle gutherzigen Menschen mit Spiritualität segnen.