Was hat der Islam mit Barmherzigkeit zu tun, fragt sich der Leser beim Erblicken der Überschrift. Die meisten Menschen, insbesondere im Westen, denken beim Islam an eine mittelalterliche Gesetzesreligion mit strengen Vorschriften; Bilder eines willkürlich rächenden Gott schwirren in ihren Köpfen. Zu allem Übel klingt der Name der islamischen Gottheit auch noch fremd. Tötungen, Anschläge und Verbrechen schießen hervor, sobald der Islam oder ähnlich klingende Ausdrücke die Ohren erreichen. Diese negative Grundhaltung der Menschen im Westen hat viele Ursachen. Neben der Unfähigkeit der Muslime, ihren Glauben korrekt zu artikulieren, sind es vor allem die früheren westlichen Denker, die in aller Unsachlichkeit, den Gegensatz zwischen dem Christentum und den anderen semitischen Religionen hervorheben wollten. Der christlichen Lehre wurde das Privileg eines liebenden, frei von Rache und Strafe erfüllten Gottes eingeräumt. Den Islam haftete man mit negativen, angsterzeugenden Eigenschaften an, frei von Gnade, Liebe und Barmherzigkeit. Nun, lassen Sie uns diese Falschheit aus der Welt schaffen: Der Islam ist weder ein Katalog von Regeln noch liebloser als andere Religionen. Im Gegenteil: Er hat besondere spirituelle Vorzüge, die ihn einzigartig machen.

Noch vor seinen Anhängern bezeugt das der Koran, der die wichtigste Quelle für alle muslimischen Gläubigen darstellt. Wer ihn aufschlägt, zu lesen beginnt, findet einen barmherzigen, gnädigen und allmächtigen Schöpfer, der den Menschen zum ewigen Heil führen möchte. Mit der Eröffnenden, der ersten Sure im Koran, öffnet Gott die Tore seiner unendlichen Güte und gewährt seinem Diener Einblicke in die Schönheiten der göttlichen Wahrheiten. Die Eröffnende ist der Anfang in ein neues Leben; ein Leben, in dem Gott mich als fürsorglicher Herrscher ewig an die Hand nehmen möchte.
Mit einer Ausnahme beginnen alle Suren der heiligen Schrift mit der basmallah, einer besonderen Anfangsformel, die Gottes Barmherzigkeit wiederspiegelt. Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen – Worte, die jede Sure des heiligen Korans vom ersten bis zum letzten Buchstaben mit der göttlichen Gnade ummanteln. In den islamischen Schriften hat rahmah (Barmherzigkeit) unter den vielen Ausdrücken, die wir für das Erbarmen finden, die häufigste Anwendungsquote. Mehr als 700 Mal finden wir, allein im Koran, unterschiedliche Formen seines Wortstammes.

Wie stark die göttliche Barmherzigkeit in der islamischen Schöpfungstheologie verankert ist, zeigt eine Ausspruch des Propheten. Dort heißt es:
„Als Gott rahim, den Mutterleib (als Urquelle allen Menschengeschlechts) schuf, sagte Er zu ihm: „‚Ich bin ar-Rahman (der Barmherzige), und du bist rahim. Ich habe deinen Namen von Meinem Namen abgeleitet. Wer sich um dich kümmert, um den werde Ich mich kümmern, und wer dich vernachlässigt, wird von Mir vernachlässigt.“
So hat Gott den Menschen von seiner Geburt an rahmah, also ein umsorgendes Mitgefühl, mitgegeben. Sie ist existenziell mit ihm verbunden und begleitet ihn mit jedem Schritt, den er vorwärts geht. Das Gott-Mensch-Verhältnis bekommt im Islam somit mütterliche statt väterliche Züge, wollte man solche Bilder nutzen. Gottes Beziehung zu den Menschen resultiert also aus seiner Barmherzigkeit (rahmah), nicht aus seiner Stärke. Sie ist als oberstes Handlungsprinzip richtungsweisend und die einzige Tat, zu der sich Gott im Koran verpflichtet hat:
„Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. “ (6:54)
Gott hätte sich zu jeder anderen Eigenschaft verpflichten können. Er tat es nur in Bezug auf seine Barmherzigkeit; und er stellt sie jedem zur Verfügung, ganz gleich, ob wir gut oder böse handeln:
„O unser Herr, alles erfasst Du mit Erbarmen und Wissen.“ (40:7)
Gnade, Liebe und Barmherzigkeit passen zum Islam wie der Topf zum Deckel. Sie sind der Kern der islamischen Religion, der Zweck der menschlichen Schöpfung, das Ziel allen Handelns. Gott möchte sich unser erbarmen. In Freiheit sollen wir auf Ihm zukommen. Deshalb schenkte er uns den Willen und die freie Entscheidung. Taten, die im Einklang mit den göttlichen Normen stehen, führen uns in Seine Nähe. Die göttliche Nähe ein Zustand der absoluten Freude und Glückseligkeit, das Endziel des menschlichen Strebens.
In seiner unendlichen Weisheit hat Gott uns alle Mittel zur Verfügung gestellt, die uns helfen, das höchstmögliche Ziel, die Nähe Gottes, zu erreichen. Wer sie so nutzt, wie Gott es ihm auferlegt hat, wird in den Sog seiner allumfassenden Barmherzigkeit gezogen. In Frieden wird er Leben, gesund und glücklich:

„…außer demjenigen, der bereut und glaubt und rechtschaffen handelt. Jene werden in den (Paradies)garten eingehen und ihnen wird in nichts Unrecht zugefügt – in die Gärten Edens, die der Allerbarmer Seinen Dienern im Verborgenen versprochen hat. Sein Versprechen wird bestimmt erfüllt.“ (19:60-61)