„Aber so grenzt du dich aus!“, rief Anna wütend. „Es kann doch nicht sein, dass du jegliche soziale Veranstaltung mit uns meidest: die Weihnachtsfeier, den Kramermarkt, die sozialen Events von wissenschaftlichen Konferenzen, sogar die verschiedenen Feiern deiner Kollegen, ob Disputationen oder Jahresjubiläen [in Deutschland typischerweise mit Sektempfängen]. Das ist uns gegenüber nicht besonders wertschätzend!“
Es war die zweite persönliche Begegnung mit Anna. Die erste ereignete sich nach dem Verweigern des Handschlags und dem anschließenden Mailaustausch. Anschließend hatten wir vereinbart, uns in der Pause zu treffen, um in bester Absicht unsere Meinungen auszutauschen. Die Argumente bezüglich des Handgebens wurden noch einmal in aller Ruhe ausgetauscht. Dabei haben wir gemerkt, wie viel einfacher es ist, wenn zwei aufgeklärte Menschen persönlich miteinander sprechen, als wenn sie voneinander lesen oder hören. Schnell wurde der Stein „Handgeben“ vom Berg der angesammelten Vorurteile abgetragen und wir kamen zu dem Schluss, dass man Respekt auch anders als durch das Handgeben ausdrücken kann. Auf Basis dieses Respekts können gegenseitige Toleranz und Kommunikation helfen, um Missverständnisse zu klären.
Die Wörter führten uns von einem Thema zum anderen. Im Vordergrund stand mein für sie befremdliches Verhalten bei der Arbeit, bis wir schließlich beim Thema Alkohol ankamen. Bekanntlich ist Alkohol in der deutschen Kultur als akzeptierte Droge fest verankert. Man findet kaum Veranstaltungen oder Menschenversammlungen, auf denen Alkohol nicht konsumiert wird. Es ist de facto eine kollektive Pflicht jedes einzelnen Bürgers, Alkohol zu trinken oder wenigstens den Alkoholkonsum zu akzeptieren. Sogar während der Arbeit ist Alkohol gang und gäbe, da gesetzlich keine klare Grenze formuliert wird. (Siehe http://www.arbeitsrecht-lüdenscheid.de/alkohol.html)
Anna hatte vollstes Verständnis dafür, dass ich keinen Alkohol trinke. Schließlich soll jeder trinken und lassen, was er will. Außerdem war ihr bekannt, dass jede wissenschaftliche Studie Alkohol als ein gefährliches Gift einstuft. Dass die resultierenden Schäden (Gehirn, Herz, Leber usw.) immens sind, dürfte für sie kein Geheimnis sein. Hinzu kommt auch, dass Alkohol trotz gesetzlichem Verbot beim Autofahren zu den häufigsten Gründen von Verkehrsunfällen in Deutschland gehört. Aber letztlich handeln nur wenige Menschen vernünftig. Die meisten Menschen sind an die Ketten ihrer Vorfahren gefesselt. Sie denken wenig darüber nach und wenn, dann schaffen es nur wenige, sich davon loszureißen.
Anna konnte nicht verstehen, warum ich Veranstaltungen boykottiere, auf denen Alkohol getrunken wird. Sie konnte einfach nicht nachvollziehen, warum ich auch dann nicht dabei sein kann, wenn ich selbst alkoholfreie Getränke genieße. Für sie war außerdem nicht nachvollziehbar, weshalb ich in Kauf nehme, dass meine persönlichen und geschäftlichen Beziehungen auf der Arbeit und außerhalb nicht verbessert werden. Denn es heißt, speziell hier in Deutschland, dass die meisten Geschäfte beim Anstoßen abgewickelt werden.
„Mohammed bist du noch da?“, fragte Anna, während ich in meine lange Denkpause versunken war.
„Ja, ich war gedanklich kurz unterwegs, um ein paar Sachen zu erledigen“, antwortete ich schmunzelnd. Der einfache Witz fand seinen Weg in Annas Gesicht und verwandelte ihre ernsthafte Miene in ein Lächeln.
„Ich weiß inzwischen, dass du für jede augenscheinlich merkwürdige Handlung eine rationale Begründung hast oder hier etwa nicht?“, fragte sie mit einem herausfordernden Blick.
Ich nutzte die aufgelockerte Stimmung und erwiderte: „Ich habe mich bloß gefragt, wie es sein kann, dass eine intelligente junge Dame, wie du, die Abscheulichkeit von Alkoholkonsum nicht erkennt. Wie kann es sein, dass du solche Veranstaltungen, auf denen ein Gift serviert wird, mit deiner Anwesenheit unterstützt?“
Anna schien mit meiner Frage zunächst überfordert zu sein. Trotzdem schaffte sie es, in einem bestimmten Ton zu antworten: „Da übertreibst du schon wieder, findest du nicht? Was soll bitte daran verkehrt sein, sich an solchen Veranstaltungen zu beteiligen? Du kannst da sein und niemand wird dich zwingen dieses Gift zu trinken.“
„Was ist denn verkehrt, wenn jemand sich an einer Drogenparty, ohne dass er Drogen konsumiert, beteiligt?“, erwiderte ich. „Oder um es noch mehr zu überspitzen: Würdest du Verständnis für jemanden zeigen, der sich an einer Feier beteiligt, auf der kleine Mädchen regelrecht vergewaltigt werden, selbst wenn er selbst nicht mitmacht?“
„Selbstverständlich nicht! Für solche moralisch verwerflichen Taten kann ich kein Verständnis empfinden. Aber deine Analogie ist übertrieben. Das Krankheitsbild einer Droge kann einen zu unkontrolliertem Verhalten verleiten und das macht Drogen für die Gesellschaft gefährlich. Die Vergewaltigung ist dagegen ein aufgezwungener Akt, der absolut unmenschlich ist. Ich bin auf jeden Fall gegen Alkoholiker, die eine Gefahr für andere darstellen, keine Frage. Aber wenn man freiwillig kleine Mengen von Alkohol trinkt, ist man nicht sofort eine Gefahr für die Gesellschaft!“ Die Wörter sprudelten wie ein Wasserfall aus ihr heraus, als ob sie sich die Wörter im Voraus zurechtgelegt hatte.
„Einverstanden!“ Ich ergriff das Wort und fügte hinzu: „Halten wir aber, bevor wir weiter diskutieren, Folgendes fest: Eine Feier oder Veranstaltung ist zu boykottieren, wenn sie moralisch verwerfliche Elemente beinhaltet. Moralisch verwerfliche Elemente sind unter anderem welche, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, z. B. Schaden durch unkontrolliertes Verhalten oder Entzug des freien Willens anderer.“
„Gut zusammengefasst, das ist richtig“, bestätigte Anna und wartete gespannt auf meinen nächsten Zug.
„So übertrieben ist also mein vorheriger Vergleich nicht. Wie ist es bei solchen Veranstaltungen? Kannst du ausschließen, dass jemand mehr als ein Promille trinkt und dann rausgeht – passiert übrigens fast bei jeder Party – und eine Trunkenheitsfahrt begeht? Oder jemanden zu Tode verprügelt? Eine unschuldige Frau vergewaltigt?“ Ich nahm einen kurzen Atemzug und fuhr fort: „Denkst du noch ernsthaft, dass es für dich moralisch in Ordnung ist, wenn du dich an solchen Veranstaltungen beteiligst, Anna?“
„Ich sagte nicht, dass es moralisch unbedenklich ist, ich sagte lediglich, dass dein Vergleich übertrieben ist“, wiederholte Anna ihre Aussage in einem genervten und trotzigen Ton. „Dein Argument lautet also, jemand könnte eine Trunkenheitsfahrt begehen, wenn er zu viel trinkt, und deswegen soll ich nicht teilnehmen bzw. es wäre moralisch bedenklich. Aber die Vernunft ist auch beeinträchtigt, wenn man müde ist, sind deswegen Veranstaltungen nachts immer unmoralisch?“
„Es geht nicht bloß um unmittelbare Effekte von Alkohol nach der Feier, auch wenn ich sagen muss, dass kein einziger Fall bekannt ist, wo jemand aufgrund seiner Müdigkeit Schandtaten wie Vergewaltigungen begangen hat. Vielmehr geht es um die Tolerierung einer Droge, die Menschen zerstören kann und die Festsetzung in der Gesellschaft bei allen Anlässen, die man dadurch fördert. Schandtaten wie Gewalt, Vergewaltigungen, Unfälle, Selbstmord usw. sind nur wenige Symptome dieser gesellschaftlichen Krankheit. Und genau aus diesem Grund boykottiere ich solche Veranstaltungen. Es ist moralisch bedenklich. Ich kann es einfach nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Meiner Überzeugung nach hat der Mensch das Lebensziel, sich selbst und seine Umgebung ständig zu verbessern, um die Vollkommenheit anzustreben. Diese Vollkommenheit wird durch die moralischen Ideale repräsentiert, die wiederum von den Attributen unseres Schöpfers abgeleitet sind. Alkohol zu trinken bzw. Veranstaltungen, in denen Alkohol serviert wird, steht im klaren Widerspruch zu diesen Zielen. Deswegen würde ich mich überhaupt nicht in solchen Veranstaltungen wohlfühlen und ich werde sie weder mit meiner Anwesenheit noch mit meinem Geld unterstützen.“
Annas Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Skepsis und Verständnis.
Fortsetzung folgt
Quelle: https://archiv.offenkundiges.de/austausch-mit-nichtmuslima-ueber-alkoholkonsum/